GUS: Die islamischen GUS-Staaten am Scheideweg

GUS: Die islamischen GUS-Staaten am Scheideweg
GUS: Die islamischen GUS-Staaten am Scheideweg
 
Der Zusammenbruch des Sowjetreiches brachte den islamisch geprägten Nachfolgestaaten einen Frühling der Freiheit nach teils hundertfünfzigjähriger Fremdherrschaft. Allerdings wurden Selbstbestimmung, Souveränität und Unabhängigkeit auch von blutigen ethnischen Konflikten begleitet. Im Innern der Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und Aserbaidschan, die sich vergleichsweise rasch der GUS anschlossen, hatte die Rote Armee ihre Rolle als Ordnungsfaktor eingebüßt. In der Krise zeigten diese Länder keine Einheit, weil sie ein widersprüchliches Erbe einbrachten: In neu geschaffenen Unionsrepubliken, deren Grenzen willkürlich gezogen worden waren, hatten die muslimischen Völker seit den 1920er-Jahren stärker als unter den Zaren Anteil am kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel des Staates genommen. In Gestalt einer russifizierten Sowjetzivilisation hielt die Moderne über Alphabetisierungsprogramme und technische Bildung, durch den Aufbau neuer Industrien (Baumwolle) und die Ausbeutung der Bodenschätze (Erdöl, Kohle, Kupfer), mit der Errichtung wichtiger Eisenbahnlinien und großräumiger Bewässerungssysteme Einzug. Über Nacht sollten jahrhundertealte Stammestraditionen, Nomadenkulturen und kleinräumige Handels- und Wirtschaftsnetze zerstört, die Menschen ihrer religiös geprägten Lebensweise entfremdet und das Land einer schrankenlosen Ausbeutung ausgesetzt werden. Trotz massiven Zwangs gelang es in siebzig Jahren kommunistischer Herrschaft jedoch nicht, den Kern einer tausendjährigen Kultur, von der etwa die usbekische Oasenstadt Buchara Zeugnis ablegt, zu zerstören.
 
 Unzureichende Klammer Islam
 
Obgleich die sowjetische Religionspolitik dem Islam — wie anderen Bekenntnissen — das Wirken in der Öffentlichkeit weitgehend versagte, nur wenige geistliche Direktorien (Muftiate) und muslimische theologische Schulen zuließ und lediglich ausgewählten Personen eine Pilgerfahrt nach Mekka gestattete, bewahrte das einfache Volk traditionelle Bräuche, Normen und Verhaltensweisen. An diesen Volksislam appellierten nach dem Umbruch religiöse Erneuerungsbewegungen. Sie fanden am ehesten in ländlichen Gebieten Gehör, wo die Bindungen an Stämme und Klane die Sowjetzeiten überdauert hatten. In den Städten hingegen wehte längst ein laizistischer Geist, der den Islam ins Private abgedrängt, die Frauen vom Schleierzwang befreit und ins Berufsleben integriert hatte. Deshalb konnte die Religion nicht zur Klammer eines kulturell homogenen »Islamistan« werden und schon gar nicht die zahlreichen inneren sozialen und gesellschaftlichen Konflikte überbrücken. Noch geringer waren die Chancen, den Islam über die Grenzen der durchaus unterschiedlichen Staaten Zentralasiens und des transkaukasischen Aserbaidschan hinweg zur einigenden Klammer einer transnationalen Glaubensgemeinschaft zu machen.
 
Die GUS bot von Beginn an keinen Ersatz für die zuvor durch die Parteiorganisation der KPdSU, die Sowjetarmee und die Zentralverwaltungswirtschaft garantierte relative Stabilität an der Peripherie zu den südlichen islamischen Nachbarstaaten. Die Türkei, Iran, die arabischen Staaten und Pakistan boten sich nun als vermeintlich natürliche Bündnispartner der neuen unabhängigen »Brudervölker« an. Besonders Ankara legte emsige Betriebsamkeit an den Tag: Die Türkei war bestrebt, sich als Vorbild für einen laizistischen, weltoffenen Staat zu präsentieren, der sich demokratischen und sozialen Zielen in einer freien Marktwirtschaft verschrieb. In einer gemeinsamen Erklärung bekannten sich turkstämmige zentralasiatische und kaukasische Republiken am 1. November 1992 auf einem Gipfeltreffen in Ankara darüber hinaus auch zur Achtung der Menschenrechte. Im gleichen Monat wurden die fünf neuen Staaten in die 1985 gegründete asiatische Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit ECO aufgenommen, der bislang lediglich die Türkei, Iran und Pakistan angehört hatten.
 
Die türkische Option war für die muslimischen Republiken aber keineswegs zwingend oder exklusiv, obwohl von den etwa 50 Millionen Muslimen in dem Gebiet zwischen dem Westufer des Kaspischen Meeres und der chinesischen Grenze über 90 Prozent turkstämmig sind. Allein die Tadschiken und einige kleinere Völker im Kaukasus gehören zur iranischen Ethnie oder zu anderen Ethnien. Doch auch sie zog weniger das religiöse Staatsmodell der Islamischen Republik Iran an als vielmehr das gemeinsame persische Erbe. Stärker als Sprachgrenzen wirkten sich noch immer jahrhundertealte kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede aus. Da der Islam viele Gesichter hat, konnte die viel beschworene religiöse Wiedergeburt zunächst nicht mehr bedeuten als eine Rückbesinnung auf nationale Traditionen und auf das »Erbe der Ahnen«, mit dem er gleichgesetzt wurde. Dies mussten auch fundamentalistische Islamisten einsehen, die die Menschen nicht auf die nationale, sondern auf die übergreifende Glaubensgemeinschaft, die umma, festlegen wollten. Tatsächlich zerfielen die aus der Sowjetzeit verbliebenen, überregionalen Muftiate des offiziellen Islam oder die panislamische Partei der islamischen Wiedergeburt in nationale Sektionen. Entsprechend war von einer alles beherrschenden Konkurrenz zwischen der Türkei und Iran um die Seelen der zentralasiatischen Völker wenig zu spüren. Vielmehr standen die neuen Republiken der Großregion im Spannungsfeld des Dreiecks aus Russland, China und Südwestasien. Trotz mancher außenpolitischer Experimente blieb Moskau für die neuen Staaten das Gravitationszentrum. Die Türkei wiederum wirkte, neben der ethnischen Verwandschaft, wegen ihres säkularistischen Modernisierungsmodells anziehend. Allerdings besaß Ankara nicht die wirtschaftlichen Ressourcen, um den Mythos eines türkischen Commonwealth von Istanbul bis Almaty (das frühere Alma-Ata) Wirklichkeit werden zu lassen.
 
Option »Zentralasiatische Union«
 
Da die Gefahr bestand, vom sowjetischen Vorzeigeobjekt eines nicht westlichen Entwicklungsmodells zum Armenhaus der russischen »Dritten Welt« abzusinken, versprach zunächst eher eine Kooperation untereinander eine Stabilisierung der Großregion. Dafür sprach, dass sich zumindest die Türken Mittelasiens als kulturelle Einheit fühlten. In Abgrenzung von eigennützigen Interessen Moskaus, Ankaras und Teherans beschlossen die Staatschefs bereits vor der Gründung der GUS die Bildung einer Zentralasiatischen Union. Sie sollte die gegenseitigen wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Beziehungen koordinieren und den Mitgliedern den Weg in eine regulierte Marktwirtschaft erleichtern. Die Staatsoberhäupter vereinbarten gegenseitige Meistbegünstigung, die Verwirklichung übergeordneter ökologischer Sanierungskonzepte sowie die Abstimmung ihrer Außenpolitik. Sie versprachen sich von dieser Zusammenarbeit die Aufwertung ihrer Stellung zwischen den regionalen »Großmächten«. Vor allem galt es, die einseitige Ausrichtung der Volkswirtschaften der Zentralasiatischen Union, in deren Grenzen immerhin 20 Prozent der Bevölkerung der ehemaligen UdSSR leben, nicht zum Anlass neuer Abhängigkeiten werden zu lassen: Denn hier wurden zwar 99,2 Prozent der Baumwolle, 50 Prozent der Wolle und 95 Prozent des Phosphors der ehemaligen Sowjetunion erzeugt, aber lediglich 8 Prozent der Industriewaren. Gemeinsam war den zentralasiatischen Republiken ein überdurchschnittlich hohes Bevölkerungswachstum (zwischen 1959 und 1989 um 140 Prozent), eine beträchtliche verdeckte ländliche Arbeitslosigkeit bei steigendem Landmangel sowie eine hohe Kindersterblichkeit infolge unzureichender medizinischer Versorgung und mangelhafter hygienischer Verhältnisse.
 
Wegen dieser gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wurden bereits die Unabhängigkeitsfeiern von Unzufriedenheit und offenen Konflikten der einheimischen Landbevölkerung mit den überwiegend europäischen Zuwanderern im Umkreis der wenigen Städte überschattet. In den Städten lebten die Menschen besser, besaßen berufliche Aufstiegschancen und sorgten sich wenig um die Belange der unentwickelten Provinzgebiete. Nun zogen es viele russische Spezialisten vor, die neuen Länder zu verlassen, weil sie wenig Zutrauen in deren Eigenständigkeit hatten oder die Auswirkungen des erwachenden Islamismus fürchteten. Schon die sowjetische Führung hatte zunehmend weniger Neigung gezeigt, allzu tief in das Gewirr von diktatorischen Ambitionen örtlicher Parteifunktionäre, Stammesbindungen und Schattenwirtschaft einzudringen. Doch auch das »neue Moskau« unter dem frei gewählten Präsidenten Boris Jelzin tat sich schwer, den unabhängigen Republiken verlässliche Angebote zu machen. Im Rahmen der GUS beschränkte sich die Zusammenarbeit auf die akute Krisenbewältigung in den ethnischen Konfliktzonen an der Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan sowie in Kasachstan. Gegen die verzweigten Drogenströme aus Zentralasien hingegen versagten die Mittel der losen Gemeinschaft. Vollends hilflos zeigte sich Russland gegenüber der Reislamisierung einiger Nationen, die parallel zu den Versuchen einer orthodoxen Rechristianisierung der Russischen Föderation verlief.
 
 
Am 18. Oktober 1991 erklärte das transkaukasische Aserbaidschan seine Unabhängigkeit. Es folgten mehrere Machtwechsel und Putschversuche, bis sich der ehemalige Kommunist Gejdar Alijew 1993 in nichtdemokratischen Wahlen als Präsident durchsetzte. Die turksprachigen Aseris, hervorgegangen aus türkischen, iranischen und kaukasischen Völkerschaften, bildeten mit weit über 80 Prozent der Bevölkerung eine deutliche Mehrheit. Ethnische Konflikte blieben indes nicht aus. Proteste von Armeniern gegen die Unterdrückung ihrer Kultur und ihre Benachteiligung im öffentlichen Leben der mehrheitlich armenisch besiedelten autonomen Enklave Bergkarabach mündeten Ende der Achtzigerjahre in einen Krieg zwischen den Nachbarrepubliken, in dem Tausende den Tod fanden und mehrere Zehntausend flohen. Nicht minder blutig verliefen Unruhen in der vorwiegend von Aseris bewohnten autonomen Exklave Nachitschewan an der armenischen Grenze zu Iran. Pläne für ein »Großaserbaidschan«, das auch die etwa 10 Millionen Aseris im Nordwesten Irans umfassen sollte, belasteten die Beziehungen zum großen Nachbarn im Süden. Von Ölgeschäften mit westlichen Partnern versprach sich Aserbaidschan wirtschaftliche Prosperität. Die einseitige Ausrichtung auf diesen Wirtschaftszweig bedingte jedoch, dass sich die Kluft zwischen dem industriellen Zentrum um Baku und dem übrigen Land weiter vertiefte. Überbevölkerung, Landflucht und unkontrolliertes Städtewachstum drängten viele in die Arbeitslosigkeit und in ein Leben unterhalb des offiziellen Existenzminimums.
 
Den an Fläche zweitgrößten GUS-Staat Kasachstan belasteten besonders die Folgen gewaltsamer sowjetischer Bevölkerungspolitik und von über 500 südlich der Stadt Semipalatinsk durchgeführten Atomwaffentests. Seit den Zwanzigerjahren war der Anteil der Kasachen an der Gesamtbevölkerung auf zeitweilig unter 30 Prozent gefallen. 1993 betrug er erstmals wieder mehr als 40 Prozent, dahinter folgten mit 38 Prozent die Russen, die in den Städten, Industriezonen und Verwaltungszentren eine deutliche Mehrheit bilden. Nachhaltig wirkte sich aus, dass Kasachstan in der Stalinzeit Hunderttausende Deportierte aufnehmen musste, darunter Russlanddeutsche, Krimtataren und Tschetschenen, während Hunderttausende der in »Horden« (orda) gegliederten, nomadischen Kasachen infolge von Hungersnöten starben. Die mehrheitlich sunnitischen Kasachen bekannten sich nach dem Ende der Sowjetunion eher vordergründig zum Islam, um sich dadurch von den europäischen Zuwanderern abzugrenzen. Präsident Nursultan Nasarbajew rief zu ethnischer Toleranz auf und erteilte fundamentalistischen Strömungen eine Absage. Damit wollte er seinem Land trotz der zahlreichen Minderheitenkonflikte eine Brückenfunktion zwischen Asien und Europa verschaffen. Zugleich trat er selbstbewusst auf gegenüber Russland, das in Kasachstan noch immer nur einen Rohstofflieferanten sah, und gegenüber der Türkei, mit deren Vermittlerrolle zwischen Ost und West Kasachstan offen konkurriert.
 
Das bevölkerungsreiche Usbekistan blickte mit seinen 20 Millionen Einwohnern auf eine reiche Vergangenheit islamischer Hochkultur zurück. Daraus leiteten die Bildungsschichten des Landes einen Führungsanspruch über die gesamte zentralasiatische Region ab. Die Idee von einem »Großusbekistan« stieß aber nicht nur bei den Nachbarn auf Ablehnung, sondern stand auch wirtschaftlich auf schwachen Füßen. Die wenigen, meist von slawischen Zuwanderern besiedelten Städte waren nur Inseln in einer ländlichen Gesellschaft, die seit den Dreißigerjahren auf den Baumwollanbau festgelegt worden war. Deshalb forderte die Ende 1988 gegründete usbekische Nationalbewegung Birlik in erster Linie einen Schutz der natürlichen Reichtümer des Landes. Bald entbrannte jedoch ein Streit über das »wahre« Kulturerbe, das die einen im Islam, die anderen in vorislamischer Zeit verankert sahen. Er berührte auch die Schriftsprache, für deren Schreibweise das kyrillische, arabische oder das in der Türkei gebräuchliche lateinische Alphabet zur Entscheidung standen. Einig waren sich die usbekischen Nationalisten lediglich darin, das Russische aus dem öffentlichen Gebrauch zu verbannen. Ansonsten fiel es ihnen schwer, die zahlreichen Stämme des Landes, die sich in Sprache und Lebensart unterschieden und ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein besaßen, hinter der nationalen Flagge zu sammeln. Auch der Islam bot keine zureichende Klammer für eine nationale Einigung. Getrübt wurde die Einheitsidee nicht zuletzt durch die Intoleranz und Gewalt gegen Minderheiten. Im Juni 1989 entlud sich nationaler Hass gegen die turkstämmigen und muslimischen Mescheten im Ferganatal, wohin ein Teil von ihnen 1944 auf Befehl Stalins aus Georgien deportiert worden war. Ihre größere Mobilität und Unabhängigkeit vom Baumwollanbau — sie waren beispielsweise als Obst- und Gemüsebauern erfolgreich — weckten den Neid der einheimischen Usbeken.
 
Die kleinen Staaten Turkmenistan, Kirgistan, Tadschikistan
 
Das benachbarte Turkmenistan war mit 3,5 Millionen Einwohnern dünn besiedelt und von einer traditionsreichen Nomadenkultur geprägt. Letztere erwies sich gegen die gewaltsame Sesshaftmachung im Zuge der Zwangskollektivierung Ende der Zwanzigerjahre als resistent. Dessen ungeachtet entwickelte sich die Wirtschaft nicht minder widersprüchlich als in den Nachbarrepubliken. Die Bauern arbeiteten vorwiegend in künstlich bewässerten Baumwollplantagen sowie in der Kamel- und Schafzucht und vermochten das Land nicht zu ernähren. Die schwach entwickelte Industrie in den Städten blieb mit ihren meist zugereisten Arbeitern ein Fremdkörper. So bildeten die Rohstoffe Erdgas, Erdöl und Salze den einzigen Reichtum, mit dem Turkmenistan Ende der Achtzigerjahre etwa 85 Prozent seines Außenhandels bestritt. Armut, geringe Lebenserwartung und hohe Kindersterblichkeit waren Kennzeichen einer verfehlten Wirtschaftspolitik und Folgen des Raubbaus an der Natur. Da sich Stammesbindungen ungebrochen bis ans Ende der Sowjetzeit erhalten hatten und die kleine Intelligenzschicht russisch-sowjetisch assimiliert war, entstand keine mächtige Nationalbewegung. Deshalb orientierte sich die Führung auch nach der Unabhängigkeitserklärung von 1991 an Russland und maß der GUS hohe Bedeutung bei. Da die Integration aber keine Fortschritte machte, schloss die Regierung eine Reihe bilateraler Abkommen. Unter ihnen nahmen die mit dem südlich angrenzenden Iran einen besonderen Platz ein. Sie führten zur Öffnung einiger Grenzübergänge, die den Kontakt zu den Turkmenen im Nordiran erleichterten.
 
Zu den ärmsten und wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Republiken zählte auch Kirgistan, der »wilde Osten« der ehemaligen Sowjetunion, dessen Bevölkerung Ende der Achtzigerjahre nicht mehr überwiegend von Kirgisen gebildet wurde (48 Prozent). In seinen Grenzen siedelten 26 Prozent Russen, 12 Prozent Usbeken sowie Ukrainer, Tataren und Deutsche. Das Land, das sich im Dezember 1990 als letzte Republik für souverän erklärte und im folgenden Frühjahr mit überwältigender Mehrheit für die Beibehaltung der Sowjetunion votierte, besaß keine ausgebaute Industrie und war zudem arm an Rohstoffen. Die Versuche der Regierung, die Landwirtschaft, die nurmehr ein Drittel des gesamten Wirtschaftsvolumens ausmachte, an marktwirtschaftliche Methoden heranzuführen, scheiterten daran, dass die Bauern zwar Land und Vieh, nicht aber Kredite zum Kauf von Maschinen und Futtermitteln erhielten. Bei der außenpolitischen Orientierung hatte Kirgistan daher andere Voraussetzungen zu beachten als die Nachbarrepubliken. Unter Stalin war die halbnomadische Bevölkerung sesshaft gemacht und der traditionellen Lebensweise entfremdet worden, soweit sie nicht nach China oder Afghanistan hatte fliehen können. Insgesamt leistete die kirgisische Intelligenz weniger Widerstand gegen die Assimilation als andere Völker. Die Anknüpfungspunkte einer genuinen Nationalbewegung über die Stammes- und Familiengrenzen hinweg verkümmerten über die Jahrzehnte. Dagegen versuchte der kirgisische Schriftsteller Tschingis Ajtmatow anzuschreiben, erreichte weltweite Aufmerksamkeit aber nicht zuletzt deshalb, weil er seine Romane in russischer Sprache verfasste. Die Abwehr antireligiöser Kampagnen bis in die späte Sowjetzeit und der Widerstand gegen eine Verdrängung des Kirgisischen durch das Russische bildeten die einzigen Ansatzpunkte für eine nationale Selbstbesinnung.
 
Als kleinste zentralasiatische Republik konnte Tadschikistan seine Unabhängigkeit am schwersten behaupten. Das Armenhaus der ehemaligen Sowjetunion wurde in den Bürgerkrieg des benachbarten Afghanistan hineingezogen, wo die Tadschiken die zweitstärkste Bevölkerungsgruppe bildeten, und stand faktisch unter dem Protektorat Russlands, das mit seinen Truppen offiziell eine Friedensmission im Auftrag der GUS ausführte. Das vom Pamirgebirge geprägte, zerklüftete Land besaß zwar reichhaltige Bodenschätze, daneben aber nur künstlich bewässerte Baumwollplantagen, Wasserenergiewirtschaft und die traditionelle Schafzucht. Entsprechend hoch war die Zahl der Arbeitslosen, zumal die sich rasch vermehrende Bevölkerung nicht in städtische Industriezentren abwandern konnte. Die sowjetische Bildungspolitik hatte hier geringere Erfolge als bei anderen mittelasiatischen Völkern erzielt und trotz rigoroser Beschränkung der Moscheen den Islam sunnitischer Richtung nicht zu verdrängen vermocht. Triebfeder des jungen einheimischen Nationalismus war die tadschikische Sprache, die mit dem Persischen verwandt ist und den Tadschiken eine Sonderstellung inmitten mehrheitlich turksprachiger Nachbarn verlieh. Stein des Anstoßes für antiusbekische Einstellungen war der Verlust der alten Kulturzentren Buchara und Samarkand durch die willkürlichen Grenzziehungen in sowjetischer Zeit. Radikale Nationalisten verlangten nicht nur die Rückgabe beider Städte von der Nachbarrepublik, sondern leiteten von der vermeintlich alleinigen Urheberschaft an diesen Kulturstätten auch eine Überlegenheit der tadschikischen Kultur ab. Doch litt das Land weniger unter kultureller Auszehrung als vielmehr unter den inneren Fehden verfeindeter Familienklane, die Tadschikistan an den Rand des Zerfalls brachten.
 
Prof. Dr. Nikolaus Katzer
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Sowjetunion: Der Zerfall der UdSSR und die Gründung der GUS
 
 
Grobe-Hagel, Karl: Rußlands »Dritte Welt«. Nationalitätenkonflikte und das Ende der Sowjetunion. Frankfurt am Main 1992.
 
Die GUS-Staaten in Europa und Asien, herausgegeben von Boris Meissner und Alfred Eisfeld. Baden-Baden 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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